Home
Über uns
Mitglieder
Arbeitsgruppen
Projekte
Produkte
Publikationen
Stellungnahmen
News
Interviews und Namensbeiträge
Newsletter
Presse
Termine
Stellenmarkt
Online-Services
 

 

"Es ist unerlässlich, auf bereits bestehenden Erfahrungen und Lösungen aufzubauen"

Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann über den Kulturwandel in der medizinischen Forschung und die zunehmende Bedeutung der Epidemiologie

Januar 2010. „Die Anfangsinvestitionen der Vernetzung sind sehr hoch: Eine Kommunikationsstruktur, eine kulturelle Verständigungsfähigkeit zwischen unterschiedlichen Instituten und thematischen Bereichen oder zwischen Klinik und Theorie herzustellen, ist noch immer sehr aufwändig. Deshalb ist es unerlässlich, auf bereits bestehenden Erfahrungen und Lösungen aufzubauen. Dafür ist die TMF da.“

Das Interview führte Antje Schütt im Januar 2010. Eine Kurzfassung erscheint in der Zeitschrift E-HEALTH-COM 1 2010.


Herr Professor Hoffmann, die Epidemiologie boomt. In den großen neuen Vorhaben, die in jüngster Zeit auf den Weg gebracht wurden – wie der so genannten Helmholtz-Kohorte oder den nationalen Zentren für Gesundheitsforschung – spielen epidemiologische Fragestellungen, Methoden und Konzepte  eine zentrale Rolle. Was heißt das für Sie und Ihre Fachkollegen?

Alle Akteure sind sich darüber einig, dass das Gesundheitssystem dringend transformiert werden muss, um den Herausforderungen der Zukunft stand zu halten. Es ist mittlerweile auch klar, dass die bisher fehlende Evidenz, die wir dazu dringend brauchen, vor allem mit analytischen, quantitativen Methoden in repräsentativen Studien gewonnen werden kann. Bisher wurde in diesem Gebiet mehr oder weniger weltanschaulich diskutiert, die Forschungsprioritäten waren nicht selten von Enthusiasmus und Wunschdenken geprägt. Bahnbrechende Erkenntnisse zur Behandlung oder Prävention der Volkskrankheiten blieben jedoch weitgehend aus. Deshalb steigt jetzt auch die Bedeutung von Epidemiologie und Versorgungsforschung, und damit wird die Verantwortung, die wir als Forscher in diesen beiden Fächern haben, größer. Es ist jetzt noch wichtiger, dass wir die richtigen Fragen aufgreifen und bearbeiten und dass wir dies auch mit einer validen und wissenschaftlich gut begründeten Methodik tun.

Die Methodik in der Versorgungsforschung ist im Wesentlichen epidemiologische Methodik, eine eigene Methodik der Versorgungsforschung gibt es nicht. Wir Epidemiologen müssen uns dabei aber auch mit speziellen Schwierigkeiten der Versorgungsforschung beschäftigen, die in einer experimentellen oder auch „klassischen“ epidemiologischen Studie so nicht vorhanden sind: Wenn ich in einem real existierenden System forschen muss, kann ich zum Beispiel die Randbedingungen einer Studie nicht kontrollieren. Wir müssen mit den Daten arbeiten, die vorhanden sind oder erhoben werden können und können auch das Studiendesign nicht beliebig von außen festlegen.

Verfügbare Daten sind mehrheitlich Sekundärdaten, also Daten, die eigentlich für einen anderen Zweck gesammelt worden sind. Das führt zu einem Mix aus Krankenkassen-, Abrechnungs-, Rentenversicherungs- und vielen anderen Daten, die alle ganz spezifische Herausforderungen an die Validität und die Interpretierbarkeit unter der jeweiligen Forschungsfrage stellen. Methodische Qualität ist hier entscheidend. Gemeinsam mit den Kollegen, die schon länger mit Sekundärdaten gearbeitet haben, haben wir in der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) deshalb eine Leitlinie für ‚Gute Praxis Sekundärdatenanalyse' [pdf] verabschiedet, die nun die von allen wichtigen Fachgesellschaften konsentierte Leitlinie ‚Gute epidemiologische Praxis’ ergänzt.
 

Wie kann die Zusammenführung dieser Daten gelingen?

Wir brauchen dazu eine gute Kooperation mit denjenigen, die Sekundärdaten führen, also vor allem mit den Kostenträgern und den Einrichtungen der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen. Diese Partner haben sich traditionell bisher nicht mit epidemiologischer oder Versorgungsforschung beschäftigt. Hier gibt es ein klassisches Transfer- und Vernetzungsproblem.

Dazu braucht man alle die Dinge, um die wir uns in der TMF kümmern: IT-Voraussetzungen, um die Daten aus den extrem komplexen Systemen, die mehrheitlich überhaupt nicht auf Forschung angelegt sind, herauszubekommen. Datenschutzfragen, weil wir es hier mit Daten zu tun haben, die zu anderen Zwecken gesammelt worden sind: da hat keiner unterschrieben, dass damit geforscht werden darf. Und natürlich die Verknüpfung der verschiedenen Akteure im Sinne von wissenschaftlicher, aber häufig auch sozialer Netzwerkbildung. Die Welten sind ja bisher völlig getrennt gewesen, und zwischen den Akteuren im Gesundheitswesen gibt es oft ein großes Misstrauen. Die Forscher kommen da mitten hinein und wollen plötzlich Transparenz schaffen – das hat bisher im deutschen Gesundheitswesen leider noch keine Tradition.

Es geht also auch darum, eine neue Kultur zu schaffen. Die Transition des medizinischen Systems auf die Herausforderungen der nächsten 30 Jahre kann nachhaltig nur auf einer qualitativ hochwertigen und belastbaren Datengrundlage geschehen, auf einer Basis also, bei der die Interessen der einzelnen Akteure zurücktreten müssen. Das ist ein spannender Prozess, aber darin liegt eben auch eine Riesenchance für das System.
 

Alle sprechen von translationaler Forschung. Wie kommen denn die Grundlagenforschung am einen und die Epidemiologie und Versorgungsforschung am anderen Ende der Kette zusammen?

Ein wichtiger nächster Schritt in der molekularen und genetischen Grundlagenforschung ist der Aufbau großer, gut charakterisierter menschlicher Kohorten, die wir in Deutschland bisher überwiegend im universitären Bereich haben. In der Vergangenheit boten Tiermodelle oder Zellkulturen den Forschern viele Vorteile gegenüber der Gesundheitsforschung mit menschlichen Kollektiven: die Randbedingungen können kontrolliert werden, es gibt weniger Heterogenität und viel weniger Probleme mit Datenschutz und Probandenethik. Bei der Übertragung in die Praxis stoßen aber die Krankheitsmodelle, die bisher in der Grundlagenforschung untersucht worden sind, an ihre Grenzen: Monoklonale Mäuse sind eben keine Menschen, und experimentelle Therapieansätze haben häufig wenig Bezug zur Realität in unserem Versorgungssystem.

Wenn die molekulare Forschung nun gesundheitsbezogen relevant wird – also translationale Forschung betrieben werden soll – dann betreten viele Wissenschaftler Neuland. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Nationale Kohorte, die die Helmholtz-Gemeinschaft initiiert hat. Dazu gehören aber auch viele weitere epidemiologische Aktivitäten, die in jüngster Zeit in verschiedenen bisher weitgehend oder ausschließlich auf Grundlagenforschung ausgerichteten Institutionen gestartet worden sind. Für uns Epidemiologen heißt das, dass wir diese neuen Anforderungen von interdisziplinären Forschern, die uns bis dahin gar nicht auf dem Schirm hatten, in die Weiterentwicklung unserer Designs und Methoden aufnehmen und die Kollegen intensiv beraten müssen.
 

Was kann die TMF dazu beitragen?

Die Anfangsinvestitionen der Vernetzung sind sehr hoch: Eine Kommunikationsstruktur, eine kulturelle Verständigungsfähigkeit zwischen unterschiedlichen Institutionen und thematischen Bereichen der Grundlagenforschung und der eher angewandten Forschung oder auch zwischen Klinik und Theorie herzustellen ist sehr aufwändig. Deshalb ist es unerlässlich, auf bereits bestehenden Erfahrungen und Lösungen aufzubauen. Wenn jeder Akteur die notwendige standardisierte und qualitätsgesicherte Methodik, die Lösungen für den Umgang mit dem Datenschutz oder für den Aufbau einer IT-Infrastruktur alleine und jedes Mal von vorne entwickeln müsste, würden wir auf Dauer nichts erreichen.

Die TMF beschäftigt sich deshalb mit den technischen, datenschutzrechtlichen, ethischen und logistischen Voraussetzungen für qualitativ hochwertige kooperative Gesundheitsforschung. Aus meiner Sicht ist bereits ein zentraler Fortschritt, dass sie überhaupt existiert. Die TMF ist ein Quantensprung für die Kulturentwicklung, die wir in diesem Bereich brauchen. Ebenso wichtig sind aber natürlich die Entwicklungs- und die Serviceleistungen der TMF, also die hochkarätigen Vorarbeiten, die die Experten innerhalb der TMF geschaffen haben und stetig weiter entwickeln und die allen Forschern zur Verfügung stehen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Zusammenarbeit und Abstimmung mit den relevanten Behörden und Akteuren, beispielsweise im Bereich Datenschutz, Qualitätsentwicklung und Forschungsförderung. Als einzelner Forscher kann man das häufig nicht so gut. Man braucht eine kompetente Institution, die als Gruppe sprechen und beispielsweise auch mit Ministerien oder anderen Verbundforschungsinstitutionen kommunizieren kann. Man braucht eine Institution, die jeweils die Bedarfe und Potenziale zu sammeln und in konkrete Unterstützung für die Entwicklung einer erfolgreichen Verbundforschung auf Augenhöhe in Deutschland umzusetzen versucht.

Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist die Entstehung von Standards. Indem eine zentrale Stelle existiert, findet automatisch – und ganz freiwillig – eine Konvergenz der Strategien und der Methoden statt. Indem man sie für alle verfügbar macht, kann sich die beste Methodik schneller durchsetzen. Das kann gerade in diesem kompetitiven Feld extrem nützlich sein. Zeit ist in diesem Fall nicht nur Geld, sondern auch Qualität.
 

Neue Projekte können durch die Arbeit der TMF also auf dem Vorhandenen aufsetzen?

In Deutschland gibt es zurzeit eine starke Tendenz, die Gesundheitsforschung in nationalen so genannten translationalen Zentren zu organisieren. Diese Zentren stehen mit einer hohen Dringlichkeit vor den gleichen Problemen, die die BMBF-geförderten Kompetenznetze in der Vergangenheit schon hatten und die dort – oft in einem zeitraubenden und mühsamen Prozess – weitgehend gelöst wurden: nämlich alle die Schnittstellen und Verbindungsprobleme zwischen den unterschiedlichen Akteuren, die zusammen forschen sollen, zu adressieren und die dort entstehenden Probleme auf Augenhöhe möglichst frühzeitig, vorausschauend und nachhaltig zu lösen.

In diesem Bereich haben die gelegentlich sehr selbstbewusst auftretenden Helmholtz-Institute bisher noch wenig Erfahrung. Gerade eine intensive und strukturelle Zusammenarbeit zwischen den staatlich geförderten Institutionen – zum Beispiel der Helmholtz-Gemeinschaft, aber auch der Leibnitz- oder Max-Planck-Institute – mit den Universitäten ist noch relativ neu. Für manche der institutionell geförderten Akteure sind die Probleme, die wir in der Gesundheitsforschung zwischen den Universitäten in den vergangenen Jahren schon intensiv bearbeitet haben, daher noch ungewohnt. Deswegen können gerade diese Institutionen von einer intensiven Einbindung der TMF sehr profitieren und sollten die Chance und das Angebot wahrnehmen, die Transferleistungen, die aus den bisherigen Erfahrungen und Produkten der TMF möglich sind, für sich zu nutzen. Die Zukunft der Gesundheitsforschung wird kooperativ sein – da tun alle Beteiligten gut daran, möglichst viel voneinander zu lernen und durch Transparenz und einen fairen und gleichberechtigten Umgang miteinander konsequent und nachhaltig Vertrauen zu schaffen.  
 

Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann ist Leiter der Abteilung Versorgungsepidemiologie und Community Health an der Universität Greifswald, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) und Mitglied im Vorstand der TMF.


 

News Archiv

September 2023 (7)

August 2023 (2)

Juli 2023 (4)

Juni 2023 (4)

Mai 2023 (6)

April 2023 (4)

März 2023 (3)

Februar 2023 (5)

Januar 2023 (5)

Dezember 2022 (4)

November 2022 (2)

Oktober 2022 (4)

September 2022 (4)

August 2022 (5)

Juli 2022 (4)

Juni 2022 (7)

Mai 2022 (6)

April 2022 (4)

März 2022 (5)

Februar 2022 (1)

Januar 2022 (6)

Dezember 2021 (7)

November 2021 (5)

Oktober 2021 (4)

September 2021 (2)

August 2021 (1)

Juli 2021 (4)

Juni 2021 (6)

Mai 2021 (4)

April 2021 (1)

März 2021 (3)

Februar 2021 (4)

Januar 2021 (4)

Dezember 2020 (3)

November 2020 (4)

Oktober 2020 (3)

August 2020 (1)

Juli 2020 (2)

Juni 2020 (2)

Mai 2020 (2)

April 2020 (4)

März 2020 (4)

Februar 2020 (3)

Januar 2020 (1)

Dezember 2019 (3)

November 2019 (5)

Oktober 2019 (3)

September 2019 (8)

August 2019 (2)

Juli 2019 (4)

Juni 2019 (4)

Mai 2019 (5)

April 2019 (3)

März 2019 (5)

Februar 2019 (2)

Januar 2019 (2)

Dezember 2018 (6)

November 2018 (5)

Oktober 2018 (9)

September 2018 (5)

August 2018 (3)

Juli 2018 (2)

Juni 2018 (7)

Mai 2018 (1)

April 2018 (1)

März 2018 (7)

Februar 2018 (2)

Januar 2018 (7)

Dezember 2017 (6)

November 2017 (2)

Oktober 2017 (3)

September 2017 (4)

August 2017 (1)

Juli 2017 (8)

Juni 2017 (9)

Mai 2017 (4)

April 2017 (2)

März 2017 (5)

Februar 2017 (2)

Januar 2017 (4)

Dezember 2016 (8)

November 2016 (5)

Oktober 2016 (4)

September 2016 (7)

August 2016 (5)

Juli 2016 (8)

Juni 2016 (5)

Mai 2016 (3)

April 2016 (11)

März 2016 (5)

Februar 2016 (3)

Januar 2016 (8)

Dezember 2015 (6)

November 2015 (3)

Oktober 2015 (8)

September 2015 (5)

August 2015 (4)

Juli 2015 (7)

Juni 2015 (7)

Mai 2015 (5)

April 2015 (2)

März 2015 (6)

Februar 2015 (7)

Januar 2015 (8)

Dezember 2014 (6)

November 2014 (9)

Oktober 2014 (10)

September 2014 (3)

Juli 2014 (6)

Juni 2014 (5)

Mai 2014 (4)

April 2014 (8)

März 2014 (8)

Februar 2014 (6)

Januar 2014 (7)

Dezember 2013 (8)

November 2013 (6)

Oktober 2013 (5)

September 2013 (10)

August 2013 (4)

Juli 2013 (8)

Juni 2013 (7)

Mai 2013 (4)

April 2013 (9)

März 2013 (9)

Februar 2013 (5)

Januar 2013 (5)

Dezember 2012 (7)

November 2012 (5)

Oktober 2012 (5)

September 2012 (5)

August 2012 (3)

Juli 2012 (4)

Juni 2012 (4)

Mai 2012 (3)

April 2012 (3)

März 2012 (5)

Januar 2012 (7)

Dezember 2011 (2)

November 2011 (8)

Oktober 2011 (10)

September 2011 (2)

August 2011 (5)

Juli 2011 (3)

Juni 2011 (5)

Mai 2011 (8)

April 2011 (4)

März 2011 (5)

Februar 2011 (3)

Januar 2011 (5)

Dezember 2010 (3)

November 2010 (3)

Oktober 2010 (5)

September 2010 (9)

August 2010 (5)

Juli 2010 (6)

Juni 2010 (12)

Mai 2010 (3)

April 2010 (4)

März 2010 (4)

Februar 2010 (4)

Januar 2010 (1)

Dezember 2009 (1)

November 2009 (1)

Oktober 2009 (5)

September 2009 (8)

August 2009 (1)

Juli 2009 (8)

Juni 2009 (6)

Mai 2009 (2)

April 2009 (6)

März 2009 (5)

Februar 2009 (4)

Januar 2009 (2)

Dezember 2008 (3)

November 2008 (6)

Oktober 2008 (3)

September 2008 (5)

August 2008 (3)

Juli 2008 (5)

Juni 2008 (4)

Mai 2008 (3)

April 2008 (6)

März 2008 (3)

Februar 2008 (1)

Januar 2008 (2)

Dezember 2007 (2)

November 2007 (4)

Oktober 2007 (4)

September 2007 (5)

Juni 2007 (2)

Mai 2007 (1)

April 2007 (6)

Januar 2007 (1)

Dezember 2006 (8)

November 2006 (4)

Oktober 2006 (1)

September 2006 (4)

August 2006 (1)

Juli 2006 (1)

Juni 2006 (3)

Mai 2006 (1)

April 2006 (3)

März 2006 (1)

Februar 2006 (1)

Januar 2006 (2)

Dezember 2005 (3)

November 2005 (1)

Oktober 2005 (1)

September 2005 (2)

August 2005 (2)

Juli 2005 (3)

Juni 2005 (2)

April 2005 (4)

November 2004 (1)

Oktober 2004 (1)

September 2004 (1)

August 2004 (1)

Juni 2004 (2)

Mai 2004 (1)

Februar 2003 (1)

Presseschau

Termine

Interviews

„Nötig ist ein Gesamtkonzept"

Interview mit der EHEALTH.COM (Ausgabe 5/2023)


 
© TMF e.V. Glossar     Datenschutzhinweis     Info an den Webmaster     Seite drucken      Seitenanfang